Achtsamkeit für Anfänger
Entspannung beginnt im Kopf. Doch was tun, wenn dafür einfach kein Platz im Kopf ist? Eine kritische (und ehrliche) Auseinandersetzung.
Großartig. Ausgerechnet ich soll einen Artikel über Achtsamkeit schreiben. Passt in meine aktuelle Lebensphase wie der Versuch, meiner pubertierenden Tochter zu erklären, dass sie gefälligst endlich ihr Zimmer aufräumen soll, damit man den Boden wieder sieht. Ausgerechnet ich, die zurzeit bei strahlendem Sonnenschein mit langer Hose und langärmeligem Shirt herumläuft, damit man die blauen Flecken auf Arm und Bein nicht sieht. Sowas entsteht nämlich, wenn man „achtsam“ in Schlapfen die Stiege rauf läuft, um Zeit zu sparen – und dann der Labrador exakt zu diesem Zeitpunkt dieselbe Idee hat.
Achtsamkeit und ich – ein Widerspruch
Das Leben besteht ja bekanntlich aus Phasen. Bei Kleinkindern vertrösten sich die Eltern gegenseitig auf die nächste Phase – Zahnen, Fremdeln, Trotzphase, irgendeinen Begriff findet man immer. Und auch Jugendliche und Erwachsene hasten von einer Phase in die nächste – Ausbildung, Beruf, Hausbau oder Wohnungssuche.
In meiner aktuellen Phase ist gefühlt kein Platz für Achtsamkeit, zerrissen zwischen Arbeit, Kunden und dem Versuch, den Kindern gerecht zu werden, Freizeit, Schularbeiten und Tests miteingerechnet.
Gartenarbeit oder die viel beschriebene „Me Time“ dabei noch gar nicht in Erwägung gezogen.
Auf meinem Schreibtisch liegen seit Wochen drei Bücher zum Thema Achtsamkeit – leider ist meine Aufmerksamkeitsspanne einfach nicht ausreichend, bei keinem habe ich es bis auf die letzte Seite geschafft. Außerdem klingt für mich schon der Begriff „Achtsamkeit“ an sich wie das Thema „Nachhaltigkeit“ – beides sind für mich zwei abgedroschene Schlagwörter. Klingen gut und vor allem wichtig. Werden meiner Meinung nach aber inflationär gebraucht und haben dadurch den Reiz für mich verloren.
Gut. Einen Artikel über Achtsamkeit also. Werde ich schon schaffen – frei nach Pippi Langstrumpfs Leitsatz „Das habe ich noch nie vorher versucht, also bin ich völlig sicher, dass ich es schaffe.“
Der erste Versuch ist gleich einmal gescheitert. Im Nachhinein betrachtet war das auch vorhersehbar. Zwischen zwei Terminen unter Zeitdruck über Achtsamkeit zu schreiben – das passt einfach nicht zusammen. Ein anderer Ansatz muss her.
Autofahren
Wir leben auf dem Land. Bus und Bahn sind zwar prinzipiell vorhanden, aber fahren selten zu den Zeiten, an denen das Cheerleader-Training, die Heimstunde der Pfadfinder oder die Theaterproben der Töchter sind. Dafür gibt es regelmäßige Mama und Papa-Taxidienste, gefühlt rund um die Uhr.
Der Vorteil: Zeit zum Nachdenken. Auch über noch zu schreibende Artikel.
Eine Strecke, die ich täglich fahre, ist entlang der Traisen. Gedanklich bin ich dabei meistens bei meiner To-do-Liste. Diese eine bestimmte Fahrt war anders. Zufällig sah ich zuerst eine Familie, deren Sohn – sogar mit Taucherbrille! – sichtlich Spaß im seichten Wasser hatte. Nicht weit entfernt stand ein Fischer in voller Montur (Fischerhose, Hut, alles natürlich in braun-grün-Tönen) bis zu den Oberschenkeln im Wasser und bewegte sich kaum. Er ließ sich auch nicht von dem aufgeweckten weißen Pudel stören, der in Sichtweite durch das Wasser tobte. Und nach der nächsten Kurve saß eine Familie beim Jausnen auf einer Decke am Ufer. Hört sich an wie ein kitschiges Wimmelsuchbild, ich weiß. War aber genauso.
Das Schöne daran: in diesen fünf Minuten Fahrzeit habe ich einfach nur geschaut und nicht an meine nächsten Aufgaben gedacht. Und dabei „meine Erleuchtung“ gehabt: das ist auch Achtsamkeit – für Anfänger, sozusagen.
Achtsamkeit und ich – ob wir doch noch Freunde werden? Ich werde es zuerst mal mit der kleinen Schwester der Achtsamkeit versuchen – der Aufmerksamkeit.
Generation Goldfisch
Bereits vor neun Jahren ging ein zwar lustig klingender, aber eigentlich tragischer Vergleich durch die Medien: Der Durchschnittsmensch konnte sich im Jahr 2000 zwölf Sekunden konzentrieren, 2015 nur mehr acht. Dem Goldfisch wird eine Aufmerksamkeitsspanne von neun Sekunden zugewiesen. Kaum zu bezweifeln, dass Internet & Co völlig unschuldig daran sind.
Eine Studie hat ergeben, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Internetnutzern für einen bestimmten Content bei 2,5 Sekunden liegt (FleishmanHillard 2022). Kein Wunder, schließlich suchen wir ja möglichst viel Infos in kürzester Zeit. Instagram, Tiktok und Co berieseln uns 24 Stunden am Tag mit Fotos und Videos, die wir eigentlich nicht brauchen, aber unbedingt konsumieren möchten.
Wir haben es „gelernt“, neben der neuesten Netflix-Serie auf Insta zu scrollen, daneben auch noch in unterschiedlichsten Whatsapp-Gruppen „mitzureden“ und mehr oder weniger lustige Clips und Spruchbilder zu kommentieren. Vorherzusehen, dass sich die Internetnutzungsdauer beispielsweise von Jugendlichen von durchschnittlich 131 Minuten pro Tag (2012) auf 224 Minuten (2023) gesteigert hat (statista.com). Dabeisind die Auswirkungen des unüberschaubaren Themas Künstliche Intelligenz auf die Internetnutzung noch nicht mal im Entferntesten abzuschätzen.
Trotz allem ist diese Entwicklung nicht nur negativ zu verstehen – schließlich haben wir es mittlerweile auch gelernt, in kürzerer Zeit mehr Informationen aufzunehmen.
Achtsamkeit im Alltag – bewusster und entspannter leben
Achtsamkeit hat ihren Ursprung in den alten buddhistischen Lehren, mit dem großen Ziel im Hier und Jetzt zu leben, ohne zu bewerten. Diese „Mindfulness“ ist eine Geistesgegenwart, in der wir uns und unsere Umwelt bewusst wahrnehmen, ohne von Gedanken und äußeren Gegebenheiten abgelenkt zu werden. Achtsam zu sein bedeutet, sich beispielsweise auf eine bestimmte Tätigkeit oder auch den eigenen Atem zu konzentrieren. Sich selbst wieder zu spüren und sich abzugrenzen gegen die Umwelt ist das Ziel. Und diese Achtsamkeit kann man üben.
Ich bewundere insgeheim alle, die regelmäßige Meditationen, Yoga-Einheiten oder einfach Zeit für sich selbst in ihrem Alltag fix eingeplant haben. Ja, ich weiß – diese Termine sind nicht egoistisch, sondern einfach wichtig für ein ausgeglichenes Leben. Mir ist sehr wohl bewusst, dass unser Körper diese Erholungsphasen und Auszeiten braucht und sonst ein deutliches und schmerzhaftes „Mir reicht´s!“ schickt. Was ich aber auch weiß: zusätzliche Fixtermine würden mich zurzeit mehr stressen als entspannen.
Ich möchte in meinem Tempo den Wert der Langsamkeit wiederentdecken. Die kleinen Alltäglichkeiten wieder wahrnehmen, beobachten, was um mich herum los ist. Alltagsroutinen durchbrechen, bewusst Essen, ohne Ablenkung durchs Handy. Nach dem Aufstehen zumindest ein paar Dehnungsübungen machen, wenn es sich zeitlich ausgeht auch Yoga. Ein paar Fixtermine plane ich mir doch gleich ein – Abendessen mit guten Freundinnen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit, Sandra Gruberbauer